Kritik: Scott Lynch – Sturm über roten Wassern

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Nachdem Locke und Jean aus Camorr fliehen mussten, verschlägt es sie in den Stadtstaat Tal Verrar. Schnell planen Sie auch dort einen spektakulären Raub. Ihr Ziel: das luxuriöse Spielkasino Sinspire, wo Betrug mit dem Tod bestraft wird. Als wäre das nicht genug, finden die beiden sich schnell zwischen den politischen Fronten der Stadt wieder. Und auch alte Feinde tauchen wieder auf.

Lynch_Sturm_ueber_roten_WassernDas zweite Buch seiner Serie war für Scott Lynch sicherlich nicht einfach. Welcher Ort kann das Staunen über Camorr noch toppen? Was ersetzt die brutale Welt der Diebe? Wohin führt er seine Charaktere? Wie eng oder lose ist die Verbindung zum ersten Band?

Lynch schafft es in Sturm über roten Wassern alle Fragen gelungen zu beantworten. Zuerst das Setting: Camorr war eine wunderbar verruchte Stadt. Sie zauberte Bilder in den Kopf jedes Lesers, die, was Einfallsreichtum und Originalität betrifft, ihresgleichen sucht. Tal Verrar ist ein ebensolcher Stadtstaat. Einen Tick zivilisierter und gerechter aber nicht minder spannend. Der Dreh und Angelpunkt von Sturm über roten Wassern ist das Sinspire. Die luxuriöseste Spielhölle der bekannten Welt. Dort müssen sich Locke und Jean von Stockwerk zu Stockwerk nach oben schummeln. Denn nur die besten Spieler werden eingeladen, die höchsten Ebenen des Sinspire zu erklimmen. Betrüger fallen dort einfach aus dem Fenster oder werden auf dem Heimweg aus Versehen von einer Kutsche überfahren.

Vom extravaganten Spielcasino führt es Locke und Jean auf die See, wo sie feststellen müssen, dass Piraten auch irgendwie Diebe sind – mit ihrem eigenen Regeln und Moralkodex. So viele nautische Begriffe sind mir selten in einem Buch um die Ohren geflogen. Lynch spielt hier mit dem Klischee der Freibeuter – vom ehrenhaften Einzelgänger bis zum verräterischen Arschloch. Es ist ein bisschen Fluch der Karibik, aber nicht so exaltiert. Erst nach dem ich das Buch fertig gelesen hatte, ist mir aufgefallen, dass etwas sehr piratentypisches gefehlt hat: die Kanonen und Pistolen. In Lynchs Welt gibt es (noch?) kein Schwarzpulver und damit keine Pistolen, Gewehre und Kanonen. Trotzdem schafft er es das Entern eines Schiffes spannend und mitreißend zu erzählen.

Locke und Jean bei ihren aberwitzigen Plänen zu begleiten ist eine ebensolcher Spaß wie im ersten Buch. Man teilt ihre diebische Freude über jeden erfolgreichen Coup als wäre man der Dritte im Bunde. Lynch wirft wieder alles in die Dialoge. Die Wortgefechte der beiden Diebe sind einfach grandios. Außerdem bringt der Autor hier noch einiges Konfliktpotenzial unter. Nicht alles ist Friede, Freude, Eierkuchen zwischen den beiden jungen Männern. Daran wachsen die Charaktere.

Spannend ist, dass Lynch einige Fragen aus dem ersten Buch auch im Zweiten nicht beantwortet. Er reizt seine Leser wieder mit Rückblicken, lässt aber die frühen Jahre in Camorr fast komplett außen vor. Neue rätselhafte Charaktere tauchen auf, die sicherlich in den nächsten Büchern noch eine Rolle spielen werden. Der Zwist mit den Bondsmagi wird uns wohl auch noch eine Weile begleiten.

Das zweite Buch ist typisch für ein solches, weil es eine Art Startrampe für die weitere, alle Bücher überspannende Geschichte dient. Aber es verkommt auf keinen Fall zu einem bloßen Vehikel. Lynch wirft seine beiden Hauptcharaktere wieder von einer aussichtslosen Situation in die nächste und fesselt den Leser bis zu einem grandiosen Finale. Zusammengefasst: Es ist ein bisschen anders wie Die Lügen des Locke Lamora, aber mindestens ebenso gut.

Autor: Scott Lynch
Originaltitel: Red Seas under Red Skies
Verlag: Wilhelm Heyne Verlag, München
Ausgabe: Deutsche Erstausgabe 06/08
ISBN: 978-3-453-53113-0